Kapitel 1

1.

Silvester, halb neun. Blanca parkt ihr Fahrrad an einer alten Akazie und nimmt ihren Schal und zwei Maiskolben vom Gepäckträger. Süße Kekse, ein Glas billigen Rotwein, ein Stündchen plaudern mit ihrer Busenfreundin, ihr Ritual am letzten Tag jeden Jahres. Drinnen brüllt das Radio „das Jahr das geht“, Nachrichten in aller Kürze, kitschige Baladas und Pop aus Gringoland. Eine Spionageaffäre hat zwei der mächtigsten Männer dieser Welt arbeitslos werden lassen, Türken und Griechen kämpfen auf Zypern. Blanca klopft an die Tür. Aus der Bruchbude hört man jetzt Waterloo von Abba, keiner öffnet. Die junge Frau setzt sich auf den matschigen Rasen, mit ihren schmalen gekreuzten Beine ähnelt sie einem Flusskrebs. Im Radio Werbung. Blanca steht auf und haut mehrmals mit der Faust gegen die Bambustür. Ein verfärbter Weihnachtsmann mit staubigem Wattebart wackelt bei jedem Schlag. Es scheint, als sei niemand in der Hütte. In Bogotá ist ein neuer Präsident gewählt worden, ein paar hundert Indios sind von ihren Grundstücken vertrieben worden, einige umgebracht - ein Jahr mehr, das geht. 

Blanca ruft nach ihrer Freundin. Keine Antwort. Sie  stößt die Tür auf und geht ins Haus.

»María?« Kein Lebenszeichen. »María!« Die hochschwangere Frau liegt blutüberströmt in der Ecke. Blanca schreit und eilt ihr zu Hilfe. Aber niemand kann María mehr helfen. Sie liegt mit mehreren Schusswunden am Bauch und im Genick tot am Boden. 

»Wo ist das verfluchte Radio, es ist so laut.« Heulend durchsucht Blanca den ganzen Raum. Sie betritt das zweite Zimmer. Das Gerät bleibt verschwunden, dafür entdeckt sie die zerfleischten Körper von Marías Ehemann und ihrem ältesten Sohn. 

Im Garten stehen zwei Besenstiele. Die Köpfe stecken darauf. Als wären es Pokale. 

Paramilitärs, kein Zweifel.

Die Familie hat die Vacuna, die Impfung, die monatliche Rate zwei Monate hintereinander nicht bezahlt. Wer nicht zahlt, muss fliehen. Wer nicht flieht, wird hingerichtet.

Kolumbianische Hinrichtungsmethoden folgen den Traditionen, die unsere Ureinwohner von den spanischen Konquistadoren gelernt haben. Juanitos Vater und Bruder sind bei lebendigem Leib mit Macheten zerstückelt worden. Damals Macheten, heutzutage Motorsägen. 

Blanca rennt zur Eingangstür. Auf einmal hört sie ein schwaches Pfeifen. Das ist nicht das Radio, es kommt aus Marías leblosem Körper. Blanca hastet zu der Frau, dreht sie auf die Seite. Unter ihr liegt Juanito, Marías jüngster Sohn. Blanca hebt ihn auf. María hatte ihn mit ihrem Körper geschützt, deshalb ist er nur von zwei Schüssen ins linke Bein getroffen worden. Von nun an wird er hinken und einen Spitznamen tragen:  El Cojo, das Hinkebein. Der Kleine schnappt nach Luft, seine Nase ist mit vertrocknetem Blut verstopft. Blanca wäscht ihm hektisch das Gesicht und säubert seine Nase. Juanito schreit, sie umarmt und küsst ihn.

Blanca putzt noch den kleinen Jesus-Altar auf der Kommode und das Poster der Salsakönigin Celia an der Wand mit einem nassen Tuch ab. Beide sind rot bespritzt. Altar und Bild steckt sie in die Tasche, das Kind nimmt sie auf den Arm. 

Muhammad Ali gegen George Foreman, Rumble in the jungle, der Kampf des Jahrhunderts, brüllt wieder die Stimme. Sie zieht das Radio unter der Kommode hervor und zertrampelt es. Dann eilt sie hinaus, wirft einen letzten Blick auf die Hütte und verschwindet. Un feliz año pa’ti, un feliz año pa’todos, un feliz añoEin frohes Neues für Dich, ein frohes Neues für alle, ein frohes neues Jahr.

 

La Vida es un Carnaval ©

 

Das Leben ist ein Karneval

Todo aquel que piense que la vida es desigual,

tiene que saber que no es así,

que la vida es una hermosura, hay que vivirla.

Todo aquel que piense que está solo y que esta mal,

tiene que saber que no es asi,

que en la vida no hay nadie solo, siempre hay alguien

 

Jeder der denkt, dass das Leben unfair ist,

muss wissen, dass es nicht so ist,

dass das Leben eine Schönheit ist, man muss es leben

Jeder der denkt, dass er alleine ist und es ihm schlecht geht

muss wissen, dass es nicht so ist,

dass im Leben niemand alleine ist, es gibt immer jemanden 

Ay, no hay que llorar, que la vida es un carnaval,

es mas bello vivir cantando

Oh, oh, oh, ay, no hay que llorar,

que la vida es un carnaval

y las penas se van cantando.

 

Ay, man muss nicht weinen, das Leben ist ein Karneval,

es ist schöner, singend zu leben

Oh, oh, oh, ay, man muss nicht weinen,

das Leben ist ein Karneval

und der Kummer verschwindet beim Singen

Todo aquel que piense que la vida siempre es cruel,

tiene que saber que no es así,

que tan solo hay momentos malos, y todo pasa.

Todo aquel que piense que esto nunca va a cambiar,

tiene que saber que no es así,

que al mal tiempo buena cara, y todo pasa.

 

Jeder der denkt, dass das Leben immer grausam ist,

muss wissen, dass es nicht so ist,

dass es nur schwere Augenblicke gibt, und alles geht vorbei

Jeder der denkt, dass es nie besser wird,

muss wissen, dass es nicht so ist,

gute Miene zum bösen Spiel machen, alles wird besser

© Celia Cruz

 

 

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